Vom Heftigsten bis zum Allerschönsten

Zum 90. Geburts­tag von Sieg­fried Matthus

von Renate Par­schau, gar­niert mit per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen von Tho­mas Heyn

Ja, behaupte ich, Sieg­fried Mat­thus (1934–2021) war ein bedeu­ten­der Kom­po­nist des 20./21. Jahr­hun­derts. Und: Nein, ich reprä­sen­tiere nicht „die“ Mei­nung eben jener Zeit. Aber ich bin ihm einige Male per­sön­lich begeg­net, habe ihn in ver­schie­de­nen Situa­tio­nen erlebt, ihn als Musik­jour­na­list mehr­mals exklu­siv interviewt.

Hier in Stol­zen­ha­gen sei er zuhause, sagte er. Das Land­schafts­bild mit Bäu­men und Was­ser erin­ner­ten ihn an seine Kind­heit in Ost­preu­ßen. Wich­tige Werke wie das Pau­ken­kon­zert „Der Wald” und das Har­fen­kon­zert „Der See” ent­stan­den hier 1984 bzw. 1989. Vor der gro­ßen Fens­ter­front des Ter­ras­sen­zim­mers im Haus der Ehe­leute Mat­thus in Stol­zen­ha­gen. brei­tet sich eine Park­land­schaft mit gepfleg­tem Rasen aus, dar­in­nen ein paar Skulp­tu­ren, gerahmt von mäch­ti­gen Kie­fern und Eichen. In einem Kübel blüht – Ende Novem­ber – unver­dros­sen eine Tee­rose. Hin­ten an der Wand Regale mit Bild­bän­den, u.a. über den DDR-Star­ar­chi­tek­ten Herr­mann Hen­sel­mann, deut­sche Küchen­spe­zia­li­tä­ten, Schin­kels „Rei­sen durch Ita­lien“, „Prinz Hein­rich von Preu­ßen- ein Euro­päer in Rheins­berg“, Spa­nien, Schwetzingen.

Heyn: Diese vie­len Bücher habe ich immer bewun­dert, als ich 1972–1974 Meis­ter­schü­ler bei ihm war. Er gab mir immer etli­che zum Lesen mit. Nur die Bild­bände rückte er nie her­aus. Der Kata­log der Schwet­zin­ger Fest­spiele lag aber immer griff­be­reit. Diese Auf­füh­run­gen muss er sehr genos­sen haben…

Aber seine auf­re­gendste Reise, sagt Sieg­fried Mat­thus, sei die von 1988 gewe­sen. Für einen Bericht über die Ent­ste­hung der Oper „Graf Mira­beau“ beim DDR-Fern­se­hen hatte er – nach vie­lem Hin und Her mit Visa, Dreh­ge­neh­mi­gun­gen usw. – sei­nen Geburts­ort in Mal­lenup­pen, an der Ost­grenze des dama­li­gen Ost­preu­ßens in Russ­land, auf­ge­sucht und den letz­ten Kilo­me­ter bis zum Haus sei­ner Eltern – genauer des­sen Grund­mau­ern – aus der Erin­ne­rung nach 44 Jah­ren gefun­den. „Ja sdjes rodilsja“, (Ich bin hier gebo­ren) sagt er und eine Rus­sin, Anfang 40, erwi­dert: „Ja toshe“ (Ich auch). Sie kam aus dem Raum Lenin­grad hier­her, nach­dem die Fami­lie Mat­thus im Okto­ber 1944 von hier weg war. „Wir sind beide Ver­trie­bene“, sagt der 78jährige heute lächelnd. Aber die Geschichte sei­ner gefahr­vol­len Flucht über die Weich­sel und das Haff, bei der der damals 10jährige die Plan­wa­gen im Auge behal­ten sollte, auf die die Habe der Fami­lie ver­teilt war, bei der die ster­bende Groß­mutter beson­ders betreut wer­den musste und er dann von der schwan­ge­ren Mut­ter mit den Geschwis­tern getrennt wurde, geht ihm noch immer nahe.

Heyn: Die Mut­ter schnei­derte neben­bei, wie meine Mut­ter und wahr­schein­lich alle Müt­ter die­ser Zeit auch. Der Vater konnte Geige und Trom­pete spie­len und machte neben­bei Tanz­mu­sik und hat ihm diese Instru­mente auch bei­gebracht. Da lebte die Fami­lie schon im Land­kreis Ruppin.

Sein „Lamento”, Musi­ka­li­sche Erin­ne­run­gen für gro­ßes Orches­ter und Sopran­solo, ein Auf­trags­werk der Münch­ner Phil­har­mo­ni­ker , 2007 unter Chris­tian Thie­le­mann urauf­ge­führt, behan­delt die­sen Teil sei­ner Bio­gra­fie in sechs inein­an­der über­ge­hen­den Sät­zen Lamento I‑Kindheit ‑Krieg-Kälte-Kata­stro­phe- Lamento II Die „dra­ma­ti­sche Geschichte, die zugleich Zeit­ge­schichte ist“ möchte er zudem in einer Gesamt-Bio­gra­fie festhalten.

Im Früh­jahr 1980 inter­viewte ich den Künst­ler für den „Sonn­tag“ über alte und neue Hörge-wohn­hei­ten. Mat­thus sagte damals: „Dächte ich beim Arbei­ten immer nur an irgend­wel­che, ange­nom­me­nen Hör­ge­wohn­hei­ten, würde ich noch kein Stück zu Papier gebracht haben. Die For­de­rung an uns, jede Hör­ge­wohn­heit zu berück­sich­ti­gen ist unfair und uner­füll­bar. Außer­dem bin ich der Mei­nung, dass heute alle Hörer­war­tun­gen und – bedürf­nisse bedient werden...“

Zum gerade gepräg­ten Begriff der „Neuen Ein­fach­heit“, um neue Hörer­schich­ten zu errei­chen, sagte er kate­go­risch: „Immer wie­der wer­den neue Begriffe erfun­den, kei­ner weiß letzt­lich, von wem über­haupt. Er ist zu nichts, aber auch zu gar nichts nütze. Bitte ver­ges­sen Sie ihn! Den­ken Sie an Bach‘s ‚Kunst der Fuge‘ – die war viel­leicht kom­pli­ziert in der Mach- art. Für den aber der rich­tig hin­hörte, war sie wie­derum ganz ein­fach. Große Kunst hat ja irgend­wie auch ganz ein­fach zu sein. Ein­fach und kom­pli­ziert allein sind jedoch noch keine ästhe­ti­sche Qua­li­tät... wenn Musik etwas kann, dann kann sie etwas zum Aus­druck brin­gen. Man muss daher ver­su­chen, nach neuen Aus­drucks­qua­li­tä­ten zu suchen...“

Heyn: Wiki­pe­dia meint dazu: „Die Neue Ein­fach­heit war eine Stil­rich­tung der Neuen Musik. Eine Defi­ni­tion ist inso­fern schwie­rig, als der Begriff keine feste „Schule“ oder Grup­pie­rung in der neuen Musik bezeich­net, son­dern eher eine Kom­po­si­ti­ons­hal­tung. Zumeist wird der Begriff auch nicht von den Kom­po­nis­ten selbst benutzt, son­dern von Musik­wis­sen­schaft­lern (seit Ende der 1970er Jahre) oder Musik­jour­na­lis­ten geprägt, um die­ses Phä­no­men zu beschrei­ben. Die Kom­po­nis­ten zogen hin­ge­gen andere Begriff­lich­kei­ten vor, etwa Neue Viel­falt oder Neue Ein­deu­tig­keit, wie Wolf­gang Rihm 1977 vorschlug.“

Die Neue Ein­fach­heit in der DDR, die von der Kul­tur­bü­ro­kra­tie gefor­dert und stark geför­dert wurde, zielte dage­gen schlicht auf Ver­sim­pe­lung der musi­ka­li­schen Struk­tu­ren, um die Werk­tä­ti­gen bes­ser „errei­chen“ zu kön­nen. Mei­ner Erin­ne­rung nach hat der Leip­zi­ger Kom­po­nist Fritz Geiß­ler den Begriff für die DDR adap­tiert und auch so kom­po­niert. Ich spielte als Stu­dent seine Hoch­schul­oper „Die Stadt­pfei­fer“ mit: diese Musik ging bis zum Sin­ge­club-Lied mit 3 Akkor­den hin­un­ter und zu einer Art Lortzing-Spiel­opern­ges­tus wie­der hin­auf. Es war schnell wie­der vor­bei. Kein ande­rer Kom­po­nist nahm das ernst. 

Mat­thus sagte wei­ter: „Statt­des­sen wür­den „auf musi­ka­li­schem Gebiet oft­mals auch Dinge bei­sei­te­ge­scho­ben..., die dann eine Zeit lang feh­len. Dann wer­den sie ver­misst. Als Kom­po­nis­ten soll­ten wir daher...zusammen mit den auf­ge­schlos­se­nen Hörern ver­su­chen, …etwas lange Zeit Ver­ges­se­nes, Bei­sei­te­ge­scho­be­nes neu zu entdecken…“.

Heyn: Mat­thus inter­es­sierte sich aber immer für alles Mög­li­che auf dem Gebiet der Musik. Eines Tages – er hatte gerade die „Cornet“-Partitur für Dres­den auf dem Tisch – fragte er mich nach der Bass­gi­tarre, der Stim­mung der Sai­ten, der Spiel­art. Und als ich zur Pre­miere in der Sem­per­oper saß, sah ich tat­säch­lich einen Bass­gi­tar­ris­ten im Orches­ter sit­zen. Und Mat­thus war sehr erfreut, als in der Gesprächs­runde danach (oder davor?) ein jun­ger Mensch genau die­ses Detail beson­ders inter­es­sant fand und aus­drück­lich nach­fragte, warum und wieso der Meister… 

Als wir uns nach über 30 Jah­ren wie­der begeg­ne­ten, war er gerade dabei, zusam­men mit Freya Klier seine Bio­gra­fie zu schrei­ben. Und – das merkt man in jedem Satz, den er dar­über spricht – er war nicht glück­lich dabei. Beim Lesen der ers­ten Sei­ten über die schick­sals­träch­tige Flucht aus Ost­preu­ßen, ist klar, warum. Es sind der Kin­der­buch­duk­tus und ein distan­zier­ter Ton, die nicht den Cha­rak­ter und die Dra­ma­tik jener Zeit abbilden.

Ich fragte ihn nach dem sei­ner Mei­nung nach ein­schnei­dends­ten Ereig­nis für die Welt über­haupt und er ant­wor­tete: „Dass die bei­den Deutsch­lands wie­der zusam­men­ka­men, war ein ech­tes Wun­der und nur mög­lich, weil es neben vie­len ande­ren Grün­den die gemein­sa­men kul­tu­rel­len Tra­di­tio­nen gab, Beet­ho­ven, Mozart, Richard Strauss, Goe­the und Tho­mas Mann. „Auch wenn Sie danach nicht fra­gen“, fährt er fort, „es berei­tet mir große Sorge, dass 80 % unse­rer Schü­ler heute kei­nen Musik­un­ter­richt haben. Eine ganze Gene­ra­tion kennt heute schon nicht mehr unsere klas­si­schen Musik­tra­di­tio­nen die zur Welt­kul­tur gehören.“

Sor­gen machte er sich auch zuneh­mend um sein Haupt­be­tä­ti­gungs­feld: das Musik­thea­ter. Neben Hans Wer­ner Henze war und ist er ver­mut­lich der meist­ge­spielte deut­sche Opern­kom­po­nist des 20. und 21. Jahr­hun­derts. „Judith” , „Cor­net”, die „Unend­li­che Geschichte“ sind von den Thea­ter­büh­nen längst nicht mehr weg­zu­den­ken. Man sollte auf­hö­ren, „nur über das Geld zu reden, das ist knapp, das wis­sen wir, aber Phan­ta­sie ist noch am bil­ligs­ten, die kos­tet nicht sehr viel. Dazu müs­sen wir die jun­gen Autoren ermu­ti­gen, wie­der für Thea­ter und Opern­bühne zu schrei­ben, Stoffe zu fin­den, die das Heute gestal­ten, vom Hef­tigs­ten bis zum Aller­schöns­ten. Der schöp­fe­ri­sche Autor muss wie­der in den Vor­der­grund gerückt wer­den, nicht der Regis­seur, der alte Stü­cke neu erzählt und die Musik zum Bei­werk macht. Wir brau­chen eine Opern­re­form, eine neue Sicht auf Oper.”

Heyn: Das Musik­thea­ter war sein Ein und Alles. Er erzählte gern nach dem Unter­richt bei Rot­wein, wie er zu Peter Hacks ging mit Libretti, die ihm ange­bo­ten wor­den waren und Hacks gesagt haben soll: „Ich ver­biete Ihnen, das zu kom­po­nie­ren“. Wor­auf er, Mat­thus, ver­gnügt geant­wor­tet habe: „…wor­aus folgt, dass Sie mir ein Bes­se­res schrei­ben müs­sen“. Hacks beschreibt diese Sze­nen aus sei­ner Sicht in dem höchst ver­gnüg­li­chen Buch „Die Maß­ga­ben der Kunst“ fast genauso. Es wird sich also so oder so ähn­lich abge­spielt haben.

Wor­auf er stolz ist? Dass er sich als ein­fa­cher Bau­ern­junge aus dem Ost­preu­ßi­schen, der eine para­die­si­sche Kind­heit in land­schaft­lich schö­ner Umge­bung hatte, durch die Zei­ten hin­durch behaup­ten konnte. Dass er u.a. für die New Yor­ker Phil­har­mo­ni­ker kom­po­nierte (Con­certo for Two für Trom­pete und Posaune, 2002), vor der UNO gespielt wurde und in den meis­ten Musik­zen­tren der Welt Auf­füh­run­gen hatte. Dass zahl­rei­che Solisten/innen der Kam­mer­oper Rheins­berg, die er 1991 grün­dete und seit­dem künst­le­risch lei­tet, ebenda ihre inter­na­tio­nale Kar­riere begon­nen haben und heute an der Met, der Mai­län­der Scala und anderswo agie­ren. Schon 2013 hat­ten sich bereits an die 500 Teil­neh­mer bewor­ben, von denen ca. 40 aus­ge­wählt wurden…

Heyn: Das Musik­thea­ter, die Sän­ge­rin­nen und Sän­ger, das Orches­ter, der ganze Appa­rat, ja, dafür konnte er sich lei­den­schaft­lich enga­gie­ren und das war auch der Grund, warum ich unbe­dingt zu ihm als Leh­rer wollte. Ich hatte ja vor­her bei Prof. Sieg­fried Thiele (wit­zi­ger­weise auch ein Tisch­ler­sohn wie er) Unter­richt. Thiele brü­tete über den Par­ti­tur­sei­ten, schlug vor und zurück und ver­glich alles. Meist kam dann die Frage: ist das hier ein F oder ein Fis? Kom­po­si­ti­ons­stu­den­ten ver­mu­ten hin­ter so einer Frage immer einen Feh­ler oder eine Falle, oder bei­des. Also Fis. Dann, Herr Heyn, sagte Thiele sehr väter­lich, müsste es auf Seite 46 im 2.Fagott ein His sein oder? Er fand auch in den Par­ti­tu­ren von Luto­slaw­ski oder Pen­der­ecki Feh­ler. Mat­thus blät­terte die Par­ti­tur ein­mal mit dem Dau­men durch und sagte: „Der 2.Akt ist ein biss­chen kurz.“ Dann zeigt er mir sein frisch geho­bel­tes Brett für den neuen Arbeits­tisch und es gab wie­der Rot­wein. Zu sei­nen Schü­lern gehör­ten auch Bernd Franke, Tho­mas Her­tel und Rein­hard Pfundt. Jeden führte er in eine andere, eigene Rich­tung. Obwohl das auf Prof. Thiel genauso zutrifft. Das sind starke Per­sön­lich­kei­ten, die ihre Ideale vor­leb­ten und weitergaben. 

Der Tod für ihn? „Er gehört nicht zum Leben, auch wenn das oft behaup­tet wird. Er ist das Ende und nicht etwas, das in Talk­shows oder Fern­seh­fil­men the­ma­ti­siert wer­den muss.“ Über die aktu­elle The­men­wo­che im Fern­se­hen ist er empört. Er erin­nert sich an die dama­lige Flucht im Alter von zehn Jah­ren und die Angst davor, dass es das schon gewe­sen sein sollte. „Ich war mir sicher, dass wir es nicht mehr schaf­fen wür­den, den Rus­sen zu ent­kom­men und fand, zehn Jahre seien ein biss­chen kurz für ein Leben.”

Inzwi­schen ist Sieg­fried Mat­thus drei Jahre tot. Er hat an die 600 Werke kom­po­niert und viele Orden erhal­ten wie u.a. den Natio­nal­preis der ehe­ma­li­gen DDR, den Ver­dienst­or­den 1. Klasse der Bun­des­re­pu­blik, den Preis des Inter­na­tio­na­len Thea­ter­in­sti­tuts Ber­lin, den Deut­schen Kri­ti­ker­preis, den Ver­dienst­or­den des Lan­des Bran­den­burg. Er war Mit­glied meh­re­rer Aka­de­mien und im Hafen­dorf Rheins­berg ist die „Sieg­fried-Mat­thus-Arena“ nach ihm benannt wor­den. „Die Zeit wird knap­per, mit jedem Tag, das wis­sen wir. Des­halb muss man sie inten­siv nut­zen.” Sieg­fried Mat­thus hat sie genutzt.


Foto: Sieg­fried Mat­thus © Jens Kalaene/dpa)